Von einer Felsküste aus sieht man die Brandung.
reportage

Erneuerbare Energien Neufundland im Wasserstoff-Rausch

Stand: 20.05.2024 08:34 Uhr

In Kanada sind die Voraussetzungen zur Herstellung "grünen Wasserstoffs" optimal. Auf der Insel Neufundland ist eine Art Goldrausch ausgebrochen - und auch Deutschland soll profitieren. Doch nicht alle sind darüber glücklich.

Von Antje Passenheim, ARD New York, zzt. in Neufundland/Kanada

Der Wind bläst kräftig auf Neufundland. Russ Chafe lässt ihn sich um die Nase wehen. Der Lachsfischer steht an der Hafeneinfahrt von Quidi Vidi - nah an der Provinzhauptstadt St. Johns. Noch schläft das Fischerdorf mit seinen bunten Häusern. Russ schwärmt: "Hier kommt wilder Atlantik-Lachs vorbei."

Er freut sich schon. "In einigen Wochen kannst du hier jeden Morgen Fischer sehen." Dann ziehen auch Eisberge und Wale vorbei. Wenig hat sich verändert, seit Russ hier aufgewachsen ist. Aber nun bewegt sich viel: Eine Art Goldrausch hat die kanadische Inselprovinz erfasst. Der Schatz heißt "grüner Wasserstoff". Fischer wie Russ beobachten es nervös.

Häuser stehen am Wasser im Fischerdorf Quidi Vidi.

Die Bewohner des kleinen Orts Quidi Vidi leben aktuell vor allem vom Lachsfang. Doch das könnte sich bald ändern.

"Eine sehr dynamische Industrie"

In Aufbruchsstimmung ist auch Michelle Lethbridge. Pioniere seien sie, sagt die kanadische Repräsentantin der deutschen Firma ABO Wind. Der Konzern für Erneuerbare Energien aus Wiesbaden will den Sound des Windes auf Neufundland mit Turbinen verstärken. Lethbridge schwärmt: "Eine sehr dynamische Industrie ist das gerade." Viele Teile in Bewegung müssten jetzt an ihrem richtigen Platz landen.

Aufgewirbelt hat sie vor zwei Jahren ein kanadisch-deutsches Energie-Abkommen. Das Ziel: Mit Windkraft soll klimaneutraler Wasserstoff produziert werden. Der soll dann übers Meer nach Europa kommen. Ländern wie Deutschland soll das bei der Energiewende helfen. Und dabei, die Abkehr von russischem Öl und Gas zu verkraften.

900 Windräder auf 100.000 Hektar

Ihrer Heimat Neufundland stehen große Veränderungen bevor, sagt ABO-Wind-Repräsentantin Lethbridge. Das deutsche Unternehmen ist das erste aus Europa, das seinen Fuß auf die Insel im Atlantik gesetzt hat. 900 Turbinen will ABO Wind dort aufstellen.

"Wir entwickeln erstmal grüne Energie durch Windkraft auf riesigen Flächen", erklärt Firmenchef Karsten Schlageter. "Auf 100.000 Hektar. Das ist ungefähr so viel wie alle Weinbaugebiete Deutschlands zusammen oder mehr als ganz Berlin oder ein Drittel des Saarlandes."

Eine Leistung von fünf Gigawatt soll die Onshore-Anlage bringen. Die Deutschen würden damit zum größten Player unter fünf Unternehmen, die sich bereits in Neufundland angesiedelt haben auf der Jagd nach "grünem Wasserstoff". ABO Wind will mit den Turbinen zunächst einer lokalen Raffinerie für Biotreibstoff zur Energiewende verhelfen. Etwa ab 2030 soll die saubere Energie nach Deutschland verschifft werden - umgewandelt in Ammoniak.

Die treibhausgasfreie Alternative

Neufundland speist sein Netz bereits zu 97 Prozent aus Wasserkraft, sagt Sven Scholtysik. Er ist Forschungsdirektor der führenden kanadischen Energieforschungs-Organisation "Net Zero Atlantic" in Halifax in der Provinz Nova Scotia. Die Region wolle langfristig viel Windkraft nutzen, um "grünen Wasserstoff" zu produzieren - um Kanada, aber auch Staaten in Europa zu helfen, ihre Industrie CO2-frei zu machen. 

Bei der industriellen Nutzung von Wasserstoff entstehen keine Treibhausgase. Davon können unter anderem die Metall-, Glas- oder Keramikindustrie profitieren. "Grün" ist Wasserstoff allerdings nur dann, wenn er komplett mit klimafreundlicher Energie hergestellt wird.

Optimale Voraussetzungen

In großen Anlagen muss Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten werden, erklärt Scholtysik. Der Aschaffenburger Energieexperte, der schon lange in Kanada lebt, weiß: Neufundland hat beste Voraussetzungen dafür. Es gibt viel Wind, Wasser und unbesiedeltes Land.

Doch fehlt viel Infrastruktur. Wasserstoff ist ein sehr leichtes Molekül, es kann schnell entweichen. Noch gibt es nicht genügend beschichtete Hochdrucktanks, Pipelines oder Terminals. Kanada will Milliarden in die Entwicklung stecken. Auch die Bundesregierung unterstützt heimische Importeure beim Aufbau des Handelskorridors. Viele Konzerne sind im Gespräch.

Eine große Hürde beim "grünen Wasserstoff" sei, dass er immer noch sehr teuer sei, sagt Energieforscher Scholtysik. Denn die Produktionsmengen seien noch relativ klein. Es müssten aber auch langfristig Abnehmer gefunden werden. "Denn eine große Elektrolyse-Anlage in Kanada zu bauen, ist teuer. Und um diese Investitionen zu rechtfertigen, brauchen die Unternehmen, die danach streben, Wasserstoff zu produzieren, natürlich auch langfristige Abnehmer im europäischen Ausland."

Kritik von Umweltschützern

"Kafkaesk" nennt es Alison Dyer. Das laufe auf einen großen Irrsinn hinaus. Die Mitgründerin der Umweltgruppe "Envirowatch Newfoundland" glaubt nicht an das "Wunder grüner Wasserstoff". Aktivistinnen wie sie warnen davor, dass die großen Windturbinen, der Tankerverkehr und die Produktionsanlagen Neufundlands Fisch- und Vogelreichtum aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Ein Teil der kanadischen Provinz ist UNESCO-Weltkulturerbe.

Während dort Bewerbungen um den Status eines "globalen Geoparks" laufen, sei der Industrie viel wertvolles Land zugesagt worden, sagt Dyer: "Etwa 15 Prozent der Insel Neufundland - was fast der Größe von Slowenien entspricht. Den multinationalen Firmen sind massive Landstriche garantiert worden, um ihre Projekte durchzuziehen."

Alison Dyer

Die Geologin und Umweltschützerin Alison Dyer befürchtet, dass die riesigen Windturbinen dem Ökosystem großen Schaden zufügen werden.

Angst um die Walpopulation

Die Geografin steht im Sturm am Leuchtturm von Cape Spear. Ein Nebelhorn dröhnt. Dyer zeigt in die milchige Masse: "Im Sonnenschein ist es ein wunderbarer Ort, um Wale zu beobachten." Viele Umweltschützer fürchten, die Turbinen könnten ihre Migrationsrouten beeinträchtigen.

Die Neufundländer seien gar nicht gegen ein paar Windturbinen. Und auch nicht gegen Wasserstoff. Aber sie fragten sich: Warum müssen diese Mega-Windparks vor ihrer Haustür entstehen, damit sich Firmen am Export "grüner" Energie nach Europa bereichern könnten?

Perspektiven für die junge Generation

"Project Nujio'qonik - Wo der Sand weht": Der traditionelle Mi'kmaq-Name für die St.-George-Bucht auf der anderen Inselhälfte geht Sean Leet leicht über die Lippen. Er ist Chef von "World Energy GH2". Die kanadische Firma hat ihr Megaprojekt mit dem indigenen Namen getauft. Als Zeichen an die Ureinwohner, die ihr o.k. dafür gegeben haben. Der Konzern hat den Tiefseehafen von Stephenville auf der Westseite Neufundlands gekauft - inklusive einer ehemaligen Papierfabrik, die nun zur Wasserstoffproduktion umfunktioniert wird.

Die Kritik der Aktivisten teilt Leet nicht. Das Projekt sei das beste Beispiel für gute Zusammenarbeit mit den indigenen Kanadiern. Auch Mi’kmaq-Chief Peggy White sagt das. Neue Perspektiven und Jobs seien für ihre Gemeinde wichtig, um zu überleben: "Wenn unsere Kinder gehen, um Arbeit zu finden, verlieren wir unsere Kultur. Dieses Projekt verhilft ihnen zu Ausbildung, zu Jobs, dazu, dass sie hier zu Hause bleiben können."

Infrastruktur in Deutschland fehlt noch

Doch die Umsetzung der Pläne dauert auch Firmenchef Leet zu lange. Das ursprüngliche Ziel, bereits kommendes Jahr den ersten Wasserstoff nach Deutschland zu bringen, ist bereits kassiert. Leet hofft, dass bald Verträge mit deutschen Abnehmern besiegelt werden können. Aber noch sei die Infrastruktur in Deutschland nicht da. "Erst wenn das gebaut ist, können wir Wasserstoff verschiffen."

"Es wird höchste Zeit", sagt auch Grant Wach. Der Experte für Erneuerbare Energien von der Dalhousie University in Halifax steht vor einem großen Bildschirm. Ein Kalender läuft vor einem Naturbild ab. Das sei die Zeit, die noch bis zum Jahr 2030 verbleibe, sagt der Professor mit dem weißen Bart. "Das sieht erstmal nach viel aus. Aber wir haben weniger als sechs Jahre Zeit, um unsere CO2-Ziele für 2030 zu erreichen. Und ich denke, die Regierung und die Bevölkerung sind sich oft nicht bewusst, wie schnell das vergeht."

Grand Wach deutet auf seine Klima-Uhr.

"Es wird höchste Zeit", sagt Forscher Grand Wach und verweist darauf, dass das Erreichen der für das Jahr 2030 gesteckten Klimaziele in Gefahr ist.

"Es ist noch ein weiter Weg"

Bis zum Jahr 2030 will Kanada seine Treibhausgasemissionen um 40 Prozent unter die Werte von 2005 bringen. Bis 2050 will das nordamerikanische Land Klimaneutralität erreichen. Noch ist Kanada der viertgrößte Öl- und Erdgasproduzent der Welt.

Den Goldrausch, den der Wasserstoffpakt in Neufundland ausgelöst hat, beobachtet Wach mit großem Interesse. Er ist gerade aus Genf zurückgekommen. Wach berät ein UN-Klimagremium, das sich mit "grüner" Energie beschäftigt. Er weiß: Kanadas liberale Regierung hat ein großes Interesse daran, solche Energie zu exportieren - auch als politisches Signal. "Jede Form Erneuerbarer Energien muss ausgeschöpft werden, um nachhaltig die Klimaziele zu erreichen. Aber es ist noch ein weiter Weg."

Karte: Neufundland, Kanada

Antje Passenheim, ARD New York, tagesschau, 17.05.2024 08:55 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 18. Mai 2024 um 20:52 Uhr.